Geschichten als Vehikel für mobiles Bewusstsein

24. April 2023

„Menschen zeichnen sich durch ein mobiles Bewusstsein aus, mit dem sie sich an alle möglichen Orte und in alle möglichen Situationen versetzen können.“ Genau diese Fähigkeit, sich mental nicht nur in der Gegenwart, sondern in verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten aufzuhalten, und sich in andere hineinzuversetzen, macht den Menschen einzigartig. Anlass für Fritz Breithaupt, Professor für Kognitionswissenschaften und Germanistik, sich intensiver mit dem Narrativen Gehirn zu befassen:

Das Geschichtenerzählen, so seine Argumentation, ist nicht nur unterhaltsames Beiwerk unseres Lebens, sondern eine integrale Qualität des Verstandes. Weil wir uns mit Geschichten befassen, müssen wir nicht alle Erfahrungen selber machen, sondern können in einem empathischen Akt der Co-Erfahrung mit den Protagonisten der Geschichten lernen. Durch das Weitererzählen und Tradieren von Geschichten entwickeln wir zudem eine stabile mentale Umwelt, in der wir uns sicher bewegen können. Geschichten begründen Gruppen-Idenitäten und stiften Kultur.

Geschichten erlauben außerdem, probezuhandeln, vielseitige Perspektiven einzunehmen und multiversional zu denken. Denn die Spannung in Geschichten lebt von verschiedenesten Blickwinkeln und Sichtweisen, die erst am Ende „ausverhandelt“ sind. Demzufolge enden gute Geschichte immer mit einer emotionalen Quintessenz. Dieses Gefühl erlebt das Gehirn gewissermaßen als Belohnung und ankert den damit verbundenen Lerneffekt. Geschichten finden daher immer wieder Einsatz nicht nur in therapeutischen oder pädagogischen Kontexten, sondern auch im Marketing.

Nicht nur der Emotionsanker zum Abschluss macht Geschichten besonders merkfähig. Weil Geschichten eine Ordnung in den unendlichen Zeitfluss bringen und Ereignisse in einen kohärenten, kausal nachvollziehbaren Zusammenhang stellen, lassen sie sich leicht erinnern und dann auch weitererzählen. Darin unterscheidet sich narratives Denken vom kausal-analytischen Denken oder anderen Denkformen wie dem Denken in Tagträumen und Bildern, die diese Vorzug nicht in der gleichen Art und Weise bieten.

Geschichten thematisieren darüber hinaus manchmal menschliche oder gesellschaftliche Phänomene, bevor diese wissenschaftlich auf die Agenda kommen. So wurde die Theorie des psychologischen Traumas inklusive des Krankheitsbildes der Posttraumatischen Belastungsstörung nicht zuerst in der Medizin, sondern in der Literatur entwickelt. Denn Geschichten erlauben es durch ihren narrativen Spannungsbogen, besser mit Traumata umzugehen. Die erlösenden Emotionen am Ende einer Narration sind, so Fritz Breithaupt, wie eine „… Karotte, der wir nachjagen, wenn wir uns in einen narrativen Strang begeben“.

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