Archive for the 'Kommunikation & Sprache' Category

Working Out Loud

30. März 2022

Working Out Loud? In der Öffentlichkeit darüber reden, woran man gerade arbeitet, wie man dabei vorgeht und welche offenen Fragen sich stellen? Undenkbar in einer linearen Welt, in der jeder für sich in seinem stillen Kämmerlein oder allenfalls im angestammten Team über das Lösen komplexer Aufgabenstellungen nachdenkt. WOL, als Begriff erfunden vom IT-Spezialisten Bryce Williams und als Methode begründet von John Stepper, kultiviert den team- und unternehmensübergreifenden Dialog.

Working Out Loud bedeutet ganz allgemein, den Verlauf der eigenen Arbeit als Selbstständiger oder Angestellter über Social Media oder andere öffentlich zugängliche Quellen sichtbar zu machen und Ergebnisse zu teilen.

Damit verbunden ist der Wunsch, im Gegenzug auch das Wissen anderer durch gutes Netzwerken anzapfen zu können. Denn nicht selten arbeiten unterschiedliche Akteure an denselben Fragestellungen, ohne voneinander zu wissen und von den Erfahrungen der Mitakteure zu profitieren.

Die WOL-Idee setzt sich durch das team- und organisationsübergreifende Vorgehen über Konkurrenzideen und Silodenken hinweg und verwirklicht echte Kollaboration. Denn zu den von Stepper begründeten Prinzipien der Methode gehört es, Beziehungen agil und nicht nur formell und funktionsgebunden zu pflegen.

Stattdessen fußt WOL auf der Entwicklung hierarchieübergreifender, vertrauensvoller persönlicher Beziehungen in den verschiedensten Umfeldern. Auf der Basis von Offenheit und Großzügigkeit entstehen so langfristig tragfähige Netzwerke mit institutionenübergreifenden Kommunikationswegen, die manchmal auch in ungewöhnlichen Karriereschritten münden können.

Im engeren Sinne heißt WOL auch die von Stepper in seinem Buch beschriebene Methode der Circle-Treffen. Die WOL-Teilnehmenden aus einer oder mehreren Organisationen treffen sich in den Circles, um das im Circle Guide beschriebenes Programm zu durchlaufen. Mit vier bis fünf weiteren Akteuren kommen die Teilnehmenden über zwölf Wochen jeweils eine Stunde wöchentlich zusammen, um die in den Leitfäden vorgegebenen Fragestellungen zu bearbeiten. Dabei stehen immer die selbstgesteckten Ziele im Mittelpunkt.

WORKING OUT LOUD strukturiert den kreativen Austausch, um das innere und äußere Wachstum zum Nutzen aller Beteiligten anzuregen. Als Methode zur hierarchiefreien Weiterentwicklung in Teams ist WOL ein Tool zur Selbstorganisation und Förderung von Agilität. WOL ist darüber hinaus auch eine moderne Marketing-Kommunikations-Strategie, die den offenen Dialog mit Mitbewerbern und Kunden sucht.

Fragenreich ins neue Jahr starten

14. Dezember 2021

Zur Jahreswende steht nicht nur der Kalenderwechsel, sondern oft auch die Suche nach Anregungen für einen mentalen Erneuerungsprozess an. Wer das sprachliche Methodenrepertoire des Coachs kennenlernen möchte und eine Anleitung zum Selbstcoaching sucht, findet in Michael Curse Kurths 199 Fragen an Dich selbst einen guten Partner für diesen Prozess.

Der Titel verdeutlicht, dass es bei Kurths Buch um Eigenarbeit und Selbstendeckung geht. Der Autor, Rapper und zugleich Yogalehrer sowie systemischer Coach, beschränkt sich auf Einführungen sowie Erläuterungen zur guten Fragequalität. Fast nebenbei erlernt der Leser wichtige Aspekte des gezielten Spracheinsatzes beim Coaching.

In den Workshop-Parts dieses Selbstentwicklungsbuchs ist dagegen wortwörtlich allein der Leser gefragt: Entdeckungsfragen zu Zielklarheit und innerer Freiheit, zum Prozess des Annehmens, Verzeihens und Loslassens, zur Definition der eigenen Stärken sowie zum Erkunden des Berufsleben und des privaten Umfelds führen die Leserin in einen Dialog mit sich selbst.

Guten Fragen misst unsere Kultur seit Sokrates einen hohen Stellenwert zu. Doch erst das Coaching hat gute Fragetechniken systematisiert und methodisch vermittelbar gemacht. Kurths 199 Fragen tragen sicherlich zu einer weiteren Verankerung dieser Techniken in unserem Lebensalltag bei.

Diversity in Teams fördern

31. Mai 2021

Diversity gehört zu den Buzzwords, die vor allem in größeren Organisationen die Runde machen. Doch welche Vorteile ergeben sich wirklich aus der Zusammenarbeit mit bunten Teams? Wird nicht durch Vielfalt und unterschiedlichste Perspektiven die produktive Kooperation der Teammitglieder sogar noch weiter erschwert? Die Trainerin Erika Lüthi und ihre Mitautoren zeigen in Teamentwicklung mit Diversity Management, dass die komplexen Herausforderungen der Globalisierung nur mit dem Mut zur Diversität bewältigt werden können.

Ihr auf einer systemischen Sichtweise der Welt beruhendes Argument: „Die Chancen, neue Lösungen für komplexe Probleme zu finden, steigen mit der Vielfalt der zur Verfügung stehenden Menschen und mit einer geeigneten Art und Weise, das Miteinanderarbeiten zu ermöglichen.“ Diversity-Teamentwicklung ist für sie die Kunst, die Vielfalt in Geschlecht, Alter, Hautfarbe, Religion, Kultur etc. als Potenzial sichtbar zu machen und zur organisationellen Weiterentwicklung gezielt zu nutzen.

Ging es vor der Jahrtausendwende beim Diversity-Konzept noch vor allem darum, auf Diskriminierungen bestimmter Gruppen bewusst zu verzichten und Gleichwertigkeit im Miteinander zu leben, steht nun der Nutzen der Andersartigkeit für die Gemeinschaft im Mittelpunkt. In einer diversen Umwelt, so die Vorannahme, können sich langfristig nur entsprechend bunt aufgestellte Teams tatsächlich bewähren. Der Mc Kinsey Report „Delivering Through Diversity“ von 2018 beispielsweise belegt die weltweite Korrelation von Diversität und Geschäftserfolg.

Doch wie kann das Navigieren zwischen Unterschieden und den für die Teamarbeit ebenfalls nötigen Ähnlichkeiten sowie Gemeinsamkeiten gelingen? Und wie tragen sowohl Unterschiede als auch Ähnlichkeiten zur Performance bei? Im Modell von Lüthi und Kollegen steht die Entwicklung einer Teamkultur im Mittelpunkt, in der Unterschiede Würdigung finden und produktiv in den Zielerreichungsprozess integriert werden. Wenn die Synergie der vielfältigen Perspektiven gelingt, sind die Lösungsansätze diverser Teams kreativer und tragfähiger als die homogener Teams.

Typische Fragen in einer die Diversität förderndern Teamkultur lauten zum Beispiel: „Wo nutzen wir unsere Unterschiede erfolgreich? Wo lösen sie eher Unbehagen aus? Wo ergänzen wir uns in unserer Vielfalt? Welche Unterschiede in unserem Team tragen zur Zielerreichung bei?“ Voraussetzung für diesen offenen Austausch ist eine wertschätzende Feedbackkultur, die wiederum auf geschulter (Selbst-)Wahrnehmung, empathischer Kommunikation und Ambiguitätstoleranz beruht.

Ambiguitätstolerenz, die Fähigkeit, Unterschiedlichkeiten auszuhalten und mit Widersprüchen sowie Uneindeutigkeiten umgehen zu können, beschreiben Lüthi und Kollegen als die Diversity-Kompetenz schlechthin. In einer linear-analytischen Welt scheint es möglich, zwischen den Polen „richtig“ oder „falsch“, „schwarz“ oder „weiß“ zu navigieren. Doch durch die Komplexität einer digitalisierten und globalisierten Welt löst sich diese Klarheit auf. An die Stelle der alten Sicherheit tritt aber in geschulten Teams die Fähigkeit, multiperspektivisch an Lösungen heranzugehen.

Lüthi und Kollegen bieten neben einem kleinen Theorieteil eine umfangreiche Toolbox an, um Teams für den Umgang mit Diversität zu schulen. Genau genommen sind viele der beschriebenen Übungen nicht neu. Denn Teamentwicklung hatte schon immer die Aufgabe, Vielfalt und Gemeinsamkeiten zu einem größeren Ganzen zusammenzufügen. Das Diversitiy-Konzept schärft aber das Bewusstsein für Unterschiede und lenkt den Blick auf unbewusste Denkmuster (unconscious biases), die zuvor oft einfach ausgeblendet worden sind.

Wie beeinflusst uns Sprache?

21. August 2020

NLP, das Neuro-linguistische Programmieren, hebt bereits im Namen hervor, welchen hohen Stellenwert es der Sprache beimisst. Die Sprache, so die NLP-Idee, setzt den Rahmen für unsere Sicht auf die Realität. Ein veränderter Umgang mit Sprache verändert daher auch die wahrgenommene Wirklichkeit. Der Linguist Guy Deutscher zeigt in seine Buch Im Spiegel der Sprache anhand von Sprachvergleichen, warum die Welt in anderen Sprachen tatsächlich anders aussieht.

Deutschers Feststellung: Jeder kann in seiner eigenen Sprache potenziell alles ausdrücken, was er als Idee oder Konzept verstanden hat. Doch jede Sprache verengt oder erweitert durch ihren Wortschatz und ihre Grammatik zugleich die Sicht auf die Welt. Drei spannende Beispiele untersucht Deutscher im Detail: das Deuten von Farben, die Verortung von Dingen und Menschen im Raum sowie der Umgang mit geschlechsspezifischen Sprachhinweisen, womit wir als Deutschsprechende besonders gut vertraut sind.

Zunächst zur Farbe: Noch zu Zeiten Homers war das Farb-Vokabular des Griechischen so begrenzt, dass man im 19. Jahrhundert über eine physiologische Einschränkung des Sehsinns in der Antike spekulierte. Doch heute ist gesichert, dass die Menschen der Antike biologisch genauso differenziert wahrnehmen konnten wie wir. Ihre kulturelle Sicht auf Farben war jedoch reduziert. Erst seitdem Menschen immer mehr Farben selbst herstellen können, wächst die Fähigkeit zur sprachlichen Unterscheidung von Farbnuancen an. Für uns ist das Meer heute (türkis-)blau, jadegrün, schwarz oder braun, während Homer das Meer durchgehend als „weindunkel“ wahrgenommen hat.

Das Beispiel der Verortung zeigt, welche Tragweite die Sprache für Wahrnehmungen haben kann. Die Sprecher der australischen Guugu Yimithirr-Sprache gehen nicht, wie wir es für selbstverständlich halten, egozentrisch vor und beschreiben Menschen, Gegenständen und Landschaften relational zu sich selbst. Stattdessen ordnen sie die Welt um sich nach Himmelsrichtungen: „Du findest die Milchprodukte im Osten des Supermarkts“.

Während wir uns gelegentlich missverstehen, weil wir nicht wissen, aus wessen Sicht die Beschreibung „rechts von“ zu deuten ist, schafft diese Eingeborenensprache eine überpersönliche Klarheit. Ihre Sprecher schulen schon in den ersten sechs Lebensjahren ihre Sinne in einem Ausmaß, das ihnen erlaubt, auch ohne Kompass die Himmelsrichtungen präzise zu bestimmen. Mit dem schrittweisen Aussterben dieser Sprache wurde leider auch das Aussterben dieser Fähigkeit festgestellt.

Nun zu geschlechtsspezifischen Hinweisen in der Sprache: In einem in englischer Sprache durchgeführten Experiment wurden Spanischmuttersprachler und Deutschmuttersprachler gebeten, ihre Assoziationen zu so einfachen Wörten wir „bed“ oder „apple“ zu nennen. Auch auf Englisch beschreiben Spanier Betten („las camas“) und Äpfel („las manzanas“) als ausgesprochen weiblich, während Deutsche dem Bett eher sachliche und dem Apfel eher männliche Qualitäten zuschreiben. Unbewusst hängen ganz offensichtlich unsere Assoziationen von sprachlichen Vorgaben ab. Ohne Zweifel ein gutes Argument für das gendergerechte Sprechen.

Das Fazit für den (Coaching-)Alltag: Die Wirklichkeit ist in den meisten Fällen nicht identisch mit der Sprache, in der wir sie beschreiben. Ein kritisches Überprüfen der Sprache erschließt, ganz im Sinne des NLP, neue Sichten auf die Welt. Mit einer sorgfältig gewählten Sprache fördern wir die Sinneswahrnehmung und schulen uns darin, Perspektivwechsel vorzunehmen. Sprachenlernen, so noch eine Erkenntnis, erweitert enorm den Horizont. Übrigens: Wer gerne Wissenschaftskrimis liest, hat mit der Lektüre diese Buches eine sehr vergnügliche Zeit vor sich.

 

 

Immer der Nase nach

28. Juli 2020

baum-gros

Aus der Sicht von Bettina Pause, Professorin für biologische Psychologie, fängt unser Glück beim Riechen an. Geruch ist für sie aber nicht nur der „Türsteher“ zum Glück, sondern noch viel mehr. Aus Pauses Perspektive ist alles Geruchssache, was das Gehirn betrifft. Denn sie versteht unser Denkorgan evolutionär als ein Riechorgan: Je komplexer das Riechvermögen von Säugetieren, umso größer ihre Rechenzentrale Gehirn.

Um dieser Argumentation zu folgen, ist es wichtig, das eigene Wissen über den Geruchssinn auf den neuesten Stand zu bringen. Noch vor wenigen Jahren galt der tierische Geruchssinn als ausgebildeter als die menschliche Nase. Doch inzwischen darf angenommen werden, dass wir eine höhere Geruchsunterscheidungsfähigkeit besitzen als viele Tiere. Diese implizite Fähigkeit gerät jedoch in unserer am verstandesorientierten Denken ausgerichteten Kultur aus dem Blick.

Pauses These: „Riechen ist die Grundform des Fühlens.“ Und das Fühlen geht unseren kognitiven Entscheidungen (un-)bewusst immer voran. Weil Gerüche als einzige Sinneswahrnehmungen ungefiltert in das emotionale Gehirn gelangen, kommt ihnen eine zentrale Bedeutung für unsere Selbststeuerung zu. Gerüche erlauben uns beispielsweise, den genetisch passenden Partner zu finden. Im Sinne von Watzlawicks Formulierung „man kann nicht nicht kommunizieren“ ermöglicht die Chemokommunikation über Gerüche außerdem, beispielsweise Angst, Aggressionen oder auch den „Stallgeruch“ verwandter Menschen wahrzunehmen.

Der Geruchssinn ist die Basis für unsere soziale Intelligenz. So lässt sich nachweisen, dass Menschen mit einem entwickelten sozialen Netz tatsächlich feinere Nasen haben. Das menschliche „Parfum“ erlaubt es, Ähnlichkeiten in Bruchteilen von Sekunden zu erkennen und Rapport aufzubauen. Menschengeruch, so Pause, kann Empathie auslösen. Umgekehrt sendet es uns Störsignale bei Unstimmigkeiten und bedrohlichen Emotionen. Auffällig bei Menschen mit psychischen Erkrankungen wie zum Beispiel Depressionen: Bei ihnen ist die chemische Übertragung von Emotionen beeinträchtigt.

Die Auseinandersetzung mit dem unterschätzten Geruchssinn lohnt sich offensichtlich nicht nur für Glückssuchende, wie Bettina Pause überzeugend darlegt. Ein paar weniger Exkurse in Randgebiete und ein feinerer Riecher bei wertenden Kommentaren hätten ihrem Buch aber gut zu Gesicht gestanden.

 

Coaching mit dem Nervensystem

8. Januar 2020

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Coaching mit dem Nervensystem? Die Therapeutin Deb Dana zeigt in ihrem Buch Die Polyvagaltheorie in der Therapie, wie man Menschen dazu anleiten kann, alte Stressreaktionen ihres Autonomen Nervensystems zu erkennen und Zug um Zug aufzulösen. Der wichtigste Schritt dazu ist das Wahrnehmen der eigenen individuellen Konditionierungsmuster und das daran anschließende Erproben und Vertiefen ressourcevoller Strategien.

Wie funktioniert das Nervensystem bzw. wofür steht die Polyvagaltheorie?

Das Wechselspiel unseres vegetativen Nervensystems zwischen einem aktivierenden Sympathicus-Nerv und einem beruhigenden Vagus-Nerv ist schon lange bekannt. Der Psychiater Stephen Porges hat die Sicht auf dieses Wechselspiel mit der Polyvagaltheorie differenziert und gezeigt, dass nicht allein der anregende Sympathicus ein Gegenspieler des beruhigenden, entspannenden Vagus-Nervs ist. Auch ein Ast des vielfältigen Vagalsystems steht der Entspannung im Weg.

Porges unterscheidet nämlich zwischen dem vorderen und hinteren Vagus. Wirkt der vordere Vagus entspannend und öffnend für Kontaktaufbau sowie gute Kommunikation, verursacht der hintere Vagus eine Art Starre oder „Todstell-Reflex“. Höhere Hirnfunktionen sind durch diese Starre nur noch eingeschränkt verfügbar. Schwierige oder sogar traumatische Erlebnisse führen dazu, dass Menschen entweder sympathische Reaktionen wie Kampf oder Flucht oder parasympathische Reaktionen wie „Dichtmachen“ in ihrem Nervensystem speichern und konditioniert ablaufen lassen, auch wenn ihre Sicherheit in keinster Weise gefährdet ist. Die Klienten formulieren dann: „Mit dem Verstand komme ich diesem Thema nicht bei.“

Wie sieht die Arbeit mit dem Nervensystem in der coachenden Praxis aus?

Der zentrale Schritt zum Aufbau eines wieder stärker belastbaren Nervensystems, das Wahrnehmen und Flexibilisieren der eigenen individuellen Konditionierungsmuster, wurde bereits einleitend benannt. Um diese Form der Selbstbeobachtung zu ermöglichen, bietet der Coach seinem Klienten einen geschützen Raum, der in die Entspannung und Offenheit des forderen Vagus führt. Der Coach schafft also optimale Bedingungen für vertrauensvolle Kommunikation und ein waches Verarbeitung von Informationen.

Im Verlaufe eines solchen Coachings lösen sich so sowohl Rückzug, Tatenlosigkeit und geistige Starre als auch aggressive Angriffslust oder Tendenzen zur spontanen Fluchtreaktionen langsam auf. Der Klient lernt, Wahlen zu treffen und immer öfter mit dem Verhaltensrepertoire des vorderen Vagus zu reagieren. Er erkundet seine Trigger für unproduktive Reaktionen und erarbeitet sich vielfältige Alternativen. Sein Vertrauen in sich selbst und auch in sein Umfeld kann wachsen und sich stabilisieren.

Sollte die Arbeit mit dem Nervensystem nicht dem Therapeuten vorbehalten bleiben?

In der Tat hat sich die Arbeit mit dem Nervensystem insbesondere bei der Behandlung traumatisierter Menschen bewährt. Doch auch gesunde Menschen, die sich für ein Coaching anstelle einer Therapie entscheiden, können von diesem Ansatz profitieren. Insbesondere der allgegenwärtige Stress katapultiert viele Menschen immer wieder in unproduktive Antworten ihres Nervensystems. In einem Coaching können sie erkennen, dass ihnen vielfältige Alternativen zur Verfügung stehen.

In welcher Beziehung stehen systemisches NLP-Coaching und Coaching mit dem Nervensystem?

Das Coaching auf Basis der Polyvagaltheorie ist entwicklungsgeschichtlich nicht mit NLP verbunden. Der NLP-Anwender erkennt jedoch überraschende Parallelen. Das im NLP vermittelte Wissen um Körpersprache und Rapport sowie die Dynamik von gutem Pacen als Voraussetzung für das Leaden erschafft genau den sicheren Raum, der für die Arbeit mit dem Nervensystem wichtig ist. Auch das achtsame Wahrnehmen der Sinneseindrücke und das Erkennen sowie Verändern konditionierter Strategien gehören zum klassischen Repertoire des NLP. Die Polyvagaltheorie verdeutlicht dem NLP-Anwender, warum diese Herangehensweisen so produktiv wirken. Weshalb nicht auch Ideen aus der Arbeit mit dem Nervensystem ins klassische Coaching integrieren? Deb Danas Buch bietet zahlreiche praktische Anregungen dafür.

Innere Repräsentation dominiert Interaktion

18. September 2019

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Innere Repräsentation dominert Interaktion. Dieser Satz des holländischen NLP-Trainers Lucas Derks stellt unser Alltagsdenken über Ursache und Wirkungen im menschlichen Miteinander auf den Kopf. Nicht unser Handeln im Außen gibt den Ausschlag, sondern unsere innere Wirklichkeitskonstruktion bzw. Repräsentation der Wirklichkeit in Form von Gefühlen, Bildern, Klängen, Worten sowie Geschmack und Geruch. Welche praktische Bedeutung ergibt sich aus diesem Gedanken?

Wenn wir die Kommunikation mit unseren Mitmenschen verbessern wollen, arbeiten wir im Allgemeinen vor allem an unserer Sprache und unserem Verhalten. Durch diese äußeren Zeichen versuchen wir, einen gelungenen Austausch herzustellen. Was wir im Moment dieses Verhaltens fühlen und welche inneren Bilder und Gedanken uns dabei begleiten, steht nicht im Mittelpunkt. Aus der Sicht eines intrasystemisch NLP-Denkers wie Lucas Derks verwundert es daher wenig, wenn unsere äußeren Signale verpuffen, solange sie noch nicht im Einklang mit der inneren Repräsentation sind.

Ein Beispiel: Stellen Sie sich vor, Sie haben Streit mit einem Menschen. Weil Sie den Konflikt aus einem Bedürfnis nach Harmonie aus der Welt schaffen möchten, gehen Sie auf Ihren Streitpartner zu. Doch in Ihrem Inneren konkurriert das Bedürfnis nach Frieden mit dem Ärger über den Streitpartner. Ihre Interaktion wird aller Wahrscheinlichkeit nicht von Erfolg gekrönt sein. Denn der verärgerte Teil in Ihnen kommuniziert sich durch Körpersprache und Stimmqualität.

Was ist die Folge? Vielleicht ärgern Sie sich jetzt noch mehr über Ihren Streitpartner. Vielleicht bemühen Sie sich auch noch intensiver, mit Konfliktmanagement-Methoden bessere Wege zu finden. Dabei läge die praktischste Lösung sehr nah: Klären Sie Ihre Emotionen, Bilder und Bewertungen, indem Sie Ihre Perspektive, die Perspektive des Streitpartners und mögliche andere Perspektiven zum Geschehen durcharbeiten. Gute Lösungen beruhen auf einem Verständnis für die Gefühle, Bedürfnisse und positiven Absichten aller einschließlich der eigenen Person. Gute Lösungen lösen das eigene innere ungute Gefühl.

Die Quintessenz: Die Voraussetzungen für eine gelungene Interaktion liegen im Inneren. Verändert sich das Innere, zeigt sich der Wandel in der Außenwelt. Skeptiker fragen: Liegt jetzt nicht die ganze Verantwortung beim eigenen Ich? Die Antwort des systemischen Denkers lautet: Beim wem denn sonst? Nur das eigene Ich kann die Verantwortung für die eigenen inneren Repräsentationen und Interaktionen übernehmen. Aber das gilt natürlich auch für das Ich des Streitparters. Je bereitwilliger beide ihr Inneres klären, umso einfacher wird das Miteinander.

Den Nerv der Kommunikation treffen

4. April 2019

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Stress kennt jeder, und alle sind inzwischen mit der Stress-Theorie vertraut: Stress entsteht, wenn das Wechselspiel zwischen aktivierendem Sympathikus und beruhigendem Vagusnerv – beide Teile des vegetativen Nervensystems – in Ungleichgewicht gerät. In seinem Buch Der Selbstheilungsnerv zeigt der Körpertherapeut Stanley Rosenberg, wie dabei nicht nur der Körper leidet, sondern auch unsere Kommunikationsfähigkeit eingeschränkt wird.

Grund genug, als Coach tiefer in die Materie einzudringen. Rosenbergs Ansatz beruht auf der bereits vor der Jahrtausendwende vom Psychiater Stephen Porges entwickelten Polyvagaltheorie. Sie differenziert zwischen hinterem und vorderem Vagus. Der hintere Vagus kann bei Stress eine Art Starre verursachen, die höhere Hirnfunktionen einschränkt. Stress ist also nicht nur, wie traditionell dargestellt, eine sympathische Überaktivierung, sondern auch ein parasympathisches Phänomen.

Der vordere Vagus dagegen sorgt für Entspannung, Kontakt und angepasste Kommunikation. Ist er aktiv, können wir aus den Mustern Kampf, Flucht oder „Todstellreflex“ bzw. „Dichtmachen“ aussteigen. Über ein belastbares Nervensystem zu verfügen bedeutet, aus aktivierten Zuständen des Sympathicus und des hinteren Vagus schnell wieder in einen Zustand der guten Kommunikation mit der Umwelt und der wachen Verarbeitung von Informationen zurückzukehren.

Insgesamt fünf Gehirnnerven, die auch wichtige körperliche Funktionen übernehmen, zählen zum System der sozialen Zuwendung: der V., VII., IX., X. und XI. Hirnnerv bzw. namentlich der Trigeminus- und Faszialisnerv, der Zungen-Rachen-Nerv, der Vagus sowie der Nervus accesssorius, der den Trapezmuskel, den Kopfwender und den Kopfnicker innerviert. Rosenberg zeigt in seinem Buch, wie mit einfachen Körperübungen zur Stimulation dieser Nerven das eigene Kommunikationssystem gut aufgestellt werden kann.

Und was bedeutet das Wissen um unsere sozialen Hirnnerven für den Coach? Mit Hilfe der Nerven der sozialen Zuwendung können wir die körpersprachliche Seite der Kommunikation besser verstehen. Die Nerven für Gesicht, Hals und Schulter haben nicht nur motorische Funktionen. Sie bestimmen mit, wie wir auf andere wirken und wie gut wir in Kontakt treten können. NLP hat diese Dynamik mit den Begriffen Kalibrieren, Rapport und Pacen sowie Leaden erfasst.

Mit Hilfe der Polyvagaltheorie sind wir aber auch in der Lage, depressive Stimmungen, Rückzug, Tatenlosigkeit und geistige Starre als Zeichen von Stress und Traumatisierung besser zu verstehen. Eine entspannende, sichere Umgebung, eine zugewandte Haltung des Coachs und vielleicht eine Körperübung wirken dann manchmal Wunder, um die Fähigkeit zum Austausch wieder in Gang zu bringen. Der Selbstheilungsnerv ist eine weitere Brücke zwischen Körper und Geist, die der Coach zielführend einsetzen kann.

Coaching als Denkpartnerschaft

15. November 2018

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Mit Time to Think hat Nancy Kline, Trainerin und Coach aus den USA, bereits 2015 die Macht des unabhängigen Denkens hervorgehoben und Räume eingefordert, in denen freies Denken kultiviert werden kann. Marion Miketta, Trainerin und Coach aus Berlin, hat mit Thinking Environment nun einen Leitfaden veröffentlicht, der typische Anwendungskontexte aufzeigt. Besonders interessant für den Coach: Der Coachingraum als als Ort einer Denkpartnerschaft.

In unserer tool-getriebenen Zeit erinnert Miketta daran, dass Coaching sich als dienende Profession versteht. Der Kutscher bzw. Coach begreift sich als Steuermann eines Vehikels bzw. Denkprozesses, der den Klient zum Erreichen seiner selbstgesetzten Ziele führt. Mit seiner Haltung und seinen Methoden erschafft der Coach eine Atmosphäre außerhalb des Alltags, in der schöpferische Ideen wieder Platz finden können.

Die Aufgabe des Coachs ist daher nicht das Zuhören, um zu reagieren oder Tools anzuwenden. Stattdessen geht es um das Zuhören als gelebte Achtsamkeitspraxis. Die Präsenz des Coachs im Hier und Jetzt erlaubt es dem Klienten, vertrauensvoll dem eigenen Gedankenstrang zu folgen und diesen selbsttätig weiterzuentwickeln. Durch seinen Aufmerksamkeitsfokus auf den Klienten erschafft der Coach den Denkraum, den der Klient in anderen Kontexten oft vermisst.

Aber auch in einem Thinking Environment stellt der Coach aktiv Fragen, um seine Rolle als Denkpartner auszufüllen. Seine Fragen thematisieren vor allem die Annahmen des Klienten, die einer Lösung im Wege stehen. Leitgedanke des Coachs ist es, mit jedweder Frage Öffnung zu schaffen, anstatt kategorisierende und bewertende „Schubladen“ zu erzeugen. Für den systemischen NLP-Coach bietet das Coaching in Form des Denkzirkels daher sehr wertvoller Anregungen.

Ein großer Nachteil des Buches sollte jedoch auch nicht unerwähnt bleiben: Mit der offensiven Art, mitten im Fachtext auf ihre Seminare und Ausbildungen zu verweisen, erzeugt Marion Miketta einen faden Beigeschmack.

Der Coach als Modell für Führungskräfte

8. Oktober 2018

baum-gros

Es heißt, die Menschenführung sei eine Kunst. Die Kunst, Entwicklungsprozesse zu gestalten, können Führungskräfte, wie der Coach und Trainer Hans-Georg Huber zeigt, gezielt von Coachs erlernen. Denn die Erfolgsfaktoren in Coaching, Führung und Prozessbegleitung unterscheiden sich nur unwesentlich. Führungskräfte bewegen sich lediglich in einem anderen „Rollenkorridor“ als Trainer, Prozessbegleiter und Coachs.

Hubers Leistung sowohl für Führungskräfte als auch für Coachs: Er thematisiert nicht das Handwerkszeug, sondern die passende Haltung. Ihm geht es nicht um einen Handlungsleitfaden, sondern darum, die Wirkfaktoren unterhalb der sichtbaren Oberfläche hervorzuheben. Die eigene Persönlichkeit betrachtet Huber als die „Kernressource“ der Führung. Wer Menschen bewegen möchte, braucht zuallererst die innere Bereitschaft, sich auf andere und ihre Emotionen einzuschwingen. Auch ein vertieftes Verständnis für die Bedeutung der Körpersprache gehört für ihn dazu.

Als wichtigsten Erfolgsfaktor in der Menschenführung hebt Huber die persönliche Flexibilität hervor. Denn nicht sachlich vorgegebene Rahmen und Inhalte entscheiden über das Vorgehen. Vielmehr geht es in der Menschenführung darum, eine individuelle Prozessdynamik zu entwickeln, mit der die betroffenen Menschen in Resonanz gehen können. Denn nur so wird die Energie freigesetzt, die für Veränderungsprozesse nötig ist. Der Zugriff auf eine große Toolbox spielt erst in zweiter Linie eine Rolle.

Ein weiterer Erfolgsfaktor ist die Fähigkeit, die passende Veränderungstiefe anzusteuern. Schnelle, allerdings oft nicht nachhaltige Veränderungen lassen sich auf der bewussten Verstandesebene erzielen. Tiefgreifende Veränderungen erfolgen aber, wie Huber in Anlehnung an das Modell der Logischen Ebenen des NLP-Lehrers Robert Dilts betont, auf der vorbewussten Ebene der Haltung. Hier gilt es für Führungskräfte sowie Coachs, die Identität, die Werte und Glaubenssätze der Menschen zu erkennen und weiterzuentwickeln.

Nicht zuletzt kommt es sowohl für Führungskräfte als auch Coachs darauf an, lösungsorientiert vorzugehen. Leitbilder, Visionen und Ziele erzeugen eine positive „Spannung zwischen IST und SOLL“. Sie setzen damit die Motivation frei, auf die Menschen zur zukunftsorientierten Veränderung angewiesen sind.

Das Buch unterstützt natürlich nicht nur Führungskräften beim Modellieren von Coach-Qualitäten. Coachs und Prozessbegleiter lernen von Hans-Georg Huber insbesondere, wie sie die Kunst, Entwicklungsprozesse zu gestalten, bereits bei der Auftragsklärung bewusst zum Einsatz bringen können.

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