Stress kennt jeder, und alle sind inzwischen mit der Stress-Theorie vertraut: Stress entsteht, wenn das Wechselspiel zwischen aktivierendem Sympathikus und beruhigendem Vagusnerv – beide Teile des vegetativen Nervensystems – in Ungleichgewicht gerät. In seinem Buch Der Selbstheilungsnerv zeigt der Körpertherapeut Stanley Rosenberg, wie dabei nicht nur der Körper leidet, sondern auch unsere Kommunikationsfähigkeit eingeschränkt wird.
Grund genug, als Coach tiefer in die Materie einzudringen. Rosenbergs Ansatz beruht auf der bereits vor der Jahrtausendwende vom Psychiater Stephen Porges entwickelten Polyvagaltheorie. Sie differenziert zwischen hinterem und vorderem Vagus. Der hintere Vagus kann bei Stress eine Art Starre verursachen, die höhere Hirnfunktionen einschränkt. Stress ist also nicht nur, wie traditionell dargestellt, eine sympathische Überaktivierung, sondern auch ein parasympathisches Phänomen.
Der vordere Vagus dagegen sorgt für Entspannung, Kontakt und angepasste Kommunikation. Ist er aktiv, können wir aus den Mustern Kampf, Flucht oder „Todstellreflex“ bzw. „Dichtmachen“ aussteigen. Über ein belastbares Nervensystem zu verfügen bedeutet, aus aktivierten Zuständen des Sympathicus und des hinteren Vagus schnell wieder in einen Zustand der guten Kommunikation mit der Umwelt und der wachen Verarbeitung von Informationen zurückzukehren.
Insgesamt fünf Gehirnnerven, die auch wichtige körperliche Funktionen übernehmen, zählen zum System der sozialen Zuwendung: der V., VII., IX., X. und XI. Hirnnerv bzw. namentlich der Trigeminus- und Faszialisnerv, der Zungen-Rachen-Nerv, der Vagus sowie der Nervus accesssorius, der den Trapezmuskel, den Kopfwender und den Kopfnicker innerviert. Rosenberg zeigt in seinem Buch, wie mit einfachen Körperübungen zur Stimulation dieser Nerven das eigene Kommunikationssystem gut aufgestellt werden kann.
Und was bedeutet das Wissen um unsere sozialen Hirnnerven für den Coach? Mit Hilfe der Nerven der sozialen Zuwendung können wir die körpersprachliche Seite der Kommunikation besser verstehen. Die Nerven für Gesicht, Hals und Schulter haben nicht nur motorische Funktionen. Sie bestimmen mit, wie wir auf andere wirken und wie gut wir in Kontakt treten können. NLP hat diese Dynamik mit den Begriffen Kalibrieren, Rapport und Pacen sowie Leaden erfasst.
Mit Hilfe der Polyvagaltheorie sind wir aber auch in der Lage, depressive Stimmungen, Rückzug, Tatenlosigkeit und geistige Starre als Zeichen von Stress und Traumatisierung besser zu verstehen. Eine entspannende, sichere Umgebung, eine zugewandte Haltung des Coachs und vielleicht eine Körperübung wirken dann manchmal Wunder, um die Fähigkeit zum Austausch wieder in Gang zu bringen. Der Selbstheilungsnerv ist eine weitere Brücke zwischen Körper und Geist, die der Coach zielführend einsetzen kann.