Lernen wie ein Künstler

12. Januar 2024

Der Weg des Künstlers von Julia Cameron, erschienen im Jahr 1992, gilt als Klassiker für alle Künstler, die ihre kreativen Barrieren überwinden wollen. Auch nach über vierzig Jahren lohnt sich die Lektüre, und zwar nicht nur für künstlerisch ambitionierte Menschen.Für alle, die inspiriert durch ihr Leben gehen wollen, bietet das Buch ein dreimonatiges Selbstcoaching-Programm an, das nicht an Aktualität eingebüsst hat. Im Gegenteil. Denn nicht Selbstoptimierung, sondern Selbstentwicklung ist das Ziel.

Konnten Leser sich im Jahr 1992 noch am Untertitel „Ein spiritueller Pfad zur Aktivierung unserer Kreativität“ reiben, erscheinen aus der Warte der modernen neurobiologischen und systemischen Forschung viele Ideen und Denkrahmen der Autorin heute jenseits der Spiritualität als taugliche Metaphern, um Lesern die passende Haltung für einen kreativen Umgang mit dem eigenen Unbewussten nahezulegen. Denn der freie Fluss der Ideen setzt Vertrauen in das Leben und in die eigenen kreativen Quellen voraus.

Das Hauptwerkzeug der Autorin, das morgentliche Journaling, hat sich nicht nur bewährt, sondern ist inzwischen zur Grundtechnik vieler anderer Programme geworden. Zum Beispiel empfiehlt auch Otto Scharmer, der Entwickler der integrativen Moderationsmethode Theory U, die Methode. Viele weitere Techniken und Geisteshaltungen hat Cameron zwar nicht erfunden, doch sinnvoll in ihrem Leitfaden zusammengetragen. Dazu gehören die Arbeit mit dem „inneren Künstlerkind“, die Arbeit mit Träumen, die Lösungsorientierung inklusive Wunderfrage, das Erkunden von Glaubenssätzen und die Ausrichtung an Bildern als Schlüssel zur Kreativität.

„Wenn Du an Deiner Kunst arbeiten möchtest, dann arbeite mit Dir selbst.“ Mit diesem Tschechow-Zitat bringt Cameron auf den Punkt, weshalb es sich für jeden lohnt, in die Selbstentwicklung zu gehen. Allein das Selbst liefert die sinnlichen Informationen, die nötig sind, um sich im Leben zu orientieren. Als (Lebens-)Künstler, so Cameron, sollten Menschen daher lernen, „für sich selbst gut zu sorgen“. Sonst trocknet ihr kreativer Energiepool aus. Ihre Empfehlung: Ein wöchentlicher „Künstler-Treff “ mit sich selbst.

Wofür ein „Künstler-Treff“, wird sich der künstlerisch weniger ambitionierte Leser zunächst fragen. Doch schnell wird deutlich, wie wirkungsvoll und befreiend es wirken kann, wenn wir uns regelmäßig Zeit für Inspiration lassen. Denn Selbstverwirklichung, ob als Künstler oder Alltagsmensch, besteht nicht im Abarbeiten eines an Pflichten orientierten und auf Perfektion ausgerichteten Programms. Der „innere Künstler“ will spielen wie ein Kind und sich von Ideen finden lassen.

Eine wichtige Mahnung an alle, die sich auf das Programm einlassen wollen: Der Weg des (Lebens-)Künstlers ist nicht eben, sondern wirft innere Blockaden, mitunter starke Emotionen und viele Veränderungen auf. Nur das Dranbleiben stellt sicher, dass der Weg erfolgreich sein wird. Erfolg besteht jedoch, das macht Cameron mit einem Zitat deutlich, nicht in einem messbaren Ergebnis. „Ein Gemälde ist nie fertig. Es endet einfach an einem interessanten Punkt.“